Sarajevo - Träume
Vor gut 30 Jahren endete der grausame Angriffskrieg Serbiens mit der Unterstützung von Einheiten bosnischer Serben gegen Bosnien und Herzegowina.
Sarajevo wurde fast vier Jahre von der serbischen Armee und bosnisch-serbischen Einheiten belagert. Ca. 11.000 Menschen wurden von den Belagerern ermordet, darunter 1.600 Kinder. Ca. 56.000 Menschen wurden verwundet. Es gab nur wenig Möglichkeiten die Stadt zu verlassen.
Ich habe während des Krieges und nach dem Krieg viel zu und in Bosnien und Herzegowina gearbeitet. Auch in Sarajevo. Text und Fotos entstanden 1997 für ein Buchprojekt zu Bosnien und Herzegowina. Es erscheinen weitere Texte zu Tuzla, Zvornik, Banja Luka, Livno. Der Text zu Goražde ist bereits erschienen.
Fotografien: Astrid Bartl
Am Ende des Textes werden einige Begriffe erläutert.
Sarajevo – Träume
Edo
Im Fenster, das über einen Platz hinweg auf einen Wohnblock schaut, schwimmt ein blauer Fisch. Der Wohnblock gegenüber trägt keine Spuren von Granateinschlägen, keine dunklen Ritzen oder Löcher. Dieser Teil war auf der Sonnenseite des Krieges. Wie es auf der anderen Seite aussieht, erkennt man nicht, aber sie war den Granaten jahrelang ausgesetzt. Der Fisch schwimmt vor dem Hochhaus und bewegt sich doch nicht. Er ist auf einer Folie auf das Fenster geklebt. Keine Veränderung.
Edo war anfangs skeptisch, ob er mit uns für das Buchprojekt sprechen sollte. Zu viele Interviews und Gespräche hat er schon hinter sich und er fühlt sich müde. Er hat uns in seinem Atelier empfangen, in seinem Rückzugsort von der äußeren Realität. Vor dem Fisch am Fenster liegt ein noch nicht vollendetes Bild auf dem Boden. Wir sitzen an einem ramponierten Couchtisch und trinken den obligatorischen Kaffee. Ein altes Radio versucht moderne Musik zu senden.
„Unsere Naivität war unglaublich. Wir nahmen die Ereignisse nicht ernst. Wir wollten nicht glauben, dass jemand unser Sarajevo, unser Leben auseinanderreißen will. Ich erinnere mich an Karadzic, als er 1972 oder 1973 als Poet begann. Er war patriarchalisch, sehr ländlich. Aber wir haben uns gedacht, o.k., das ist sein Weg. Wir haben sie unterschätzt, weil sie in Sarajevo nur ein kleiner Kreis waren. Aber auf dem Land waren sie stark und wir haben ihre Kraft nicht gespürt. Es war dann furchtbar, zu realisieren, dass jemand unsere jahrhundertealten Traditionen zerstören will.“
Die Menschen gehören zusammen und der Krieg sei so brutal gewesen, weil mit Gewalt auseinandergerissen wurde, was zusammengehört. Wie alles geschehen konnte, versteht er heute noch nicht. In Sarajevo war die Normalität das Lernen von den Anderen. Der Reichtum der Stadt war die Vielfalt. „Die beste Rockmusik, die besten Filmemacher und Schriftsteller kamen aus Sarajevo. Hier war das kulturelle Zentrum.“ Die Maler erwähnt er nicht.
Hier trafen sich in der Vergangenheit Ost und West. Hier lebten verschiedene Kulturen zusammen oder nebeneinander. Es war ein häretischer Ort in Europa, der die traditionellen Grenzen übersprang, kreativ und produktiv. Es war ein Ort der Gemeinsamkeit und Toleranz und der Solidarität im Krieg. „Sarajevo war vor dem Krieg, was Europa vielleicht in Zukunft einmal sein wird.“
Edo lebte da, wo er leben wollte. Er war während des Krieges für Ausstellungen im Ausland, kehrte aber immer wieder nach Sarajevo zurück. Er wollte nicht fliehen, er wollte die Erfahrungen machen, die der Krieg ihm aufzwang, ihm aber auch eröffnete. Die Wahrnehmung veränderte sich. Die kleinen Momente, die alltäglichen, sonst leicht vergessenen Dinge gewannen an Bedeutung. Er musste Wasser und Brot besorgen, Holz finden. Dinge, die man sonst erledigt, ohne es zu bemerken. Ein Lächeln, eine kleine Freude, die Schönheit der Frauen im Krieg wurden zum großen Vergnügen. Überlegungen über Gut und Böse wurden uninteressant. Überleben nahm zu viel Zeit in Anspruch. Eines Tages würde dieser Krieg vorbei sein und die ethische Position zu den Unschuldigen zu gehören, saubere Hände zu haben, niemanden etwas getan zu haben, half ihm zu überleben.
„Ich wollte mich auch aus einem aristokratischen Gefühl heraus selbst testen, wie ich mich in einer solch schlechten Lage verhalten werde, was würde mit meinen Illusionen, meiner Erziehung, meinen Vorstellungen vom Leben geschehen. Ich sagte mir, dass ich ein Verlierer sein werde, wenn ich bleibe, aber ich wollte es sehen und erleben. Walter Benjamin sagte, wenn du mit Tod und Zerstörung in Verbindung stehst, dann verstehst du. Wenn nicht, dann siehst du nicht einmal.“
Edo lief viel durch die Stadt, Zeuge zu sein einer anderen Realität, die ihn vor den Kopf schlug, so heftig, dass er fasziniert in ihr aufging. „Der Tod wird dir nahe. Jedes Mal, wenn du ausgingst, wusstest du nicht, ob du am Abend wieder zurückkommen wirst. Das ist eine fürchterliche Vorstellung. Aber diese Verbindung mit dem Tod, die Gefahr, in der du bist, gibt dir einen klareren Blick für die Menschen und die Dinge. Du erkennst und verstehst in einer Sekunde.“
Kein Platz war sicher, überall konnte einen der Tod treffen. Die endgültige Grenze war ihm immer nah. Der Krieg als Erfahrung wird dem Künstler zum Privileg. Doch muss er sich vor der Tiefe der Gefühle mit Ironie und Humor schützen. Der Witz der kleinen Installation in seinem Atelier ist fast schmerzhaft. Sie zeigt die Alltäglichkeiten eines Lebens, das in einem Ghetto unter Dauerbeschuss vorgeführt würde.
Die Spannung des Krieges, die Energie und der Optimismus sind der Müdigkeit gewichen und der Erinnerung an die Zeit davor. Er wirkt wie ein weiser, alter Mann, der das Leben durchschaut hat, aber niemanden einen Vorwurf macht, für das was geschehen ist. Wenn er lacht, schauen seine Augen müde und traurig oder strahlen einen mit schalkhafter Freude an. Die Kunst ist der Sinn und das Wesen des Glücks geworden. Der äußeren Welt, die im Krieg noch so faszinierte und dominierte, wird wieder ihr untergeordneter Platz zuteil. Der innere Friede, die Übereinstimmung mit sich selbst sind wichtiger als Realität und Wahrheit. Die Propaganda und die Lügen der letzten Jahre waren zu viel. „Flaubert schrieb in einem Brief: mein ganzes Leben habe ich versucht, die Wahrheit zu finden. Aber die Wahrheit ist dumm.“ Es zählt nur die persönliche Erfahrung und die Bestätigung, die er in der Kunst und in Büchern findet. Cioran, Benn, Bernhard, Thomas Mann.
Die Realität war oft zu grausam, um ihr heute noch vollkommen zu vertrauen, sie regt nur noch dazu an, kreativ zu werden, Neues, eine eigene Natur zu schaffen, denn es liegt viel Gutes in ihr verborgen. Mystizismus und Ironie helfen, in ihr zu leben.
Der Glaube an das Prinzip Gemeinsamkeit ging verloren, die Individualität gewann an Bedeutung. „Ich bin glücklich, dass ich von einer sehr privaten Position als Künstler auf das Leben blicken kann. Ich habe keine Verpflichtungen. Ich habe meine private, intime Erfahrung und ich bestehe auf dieser Erfahrung, weil sie mich die guten Dinge in der Realität sehen lässt.“
Wir verlassen gemeinsam sein Atelier und gehen durch das Neubaugebiet. Flache, ausgefranste Krater von Granateinschlägen auf den Wegen. In der Innenstadt hat man viele dieser Krater mit roter Farbe ausgemalt. Hier sammelt sich der Schmutz und Staub in ihnen. Im Krieg ging er fast jeden Tag zu Fuß den Weg in die Innenstadt. Am Abend hörte er im Krieg oft BBC. Sie brachten Nachrichten und spielten gute Musik. „Sie hatten die beste Musik zum Einschlafen. Am nächsten Morgen bist du aufgewacht, gehst auf die Straße und siehst ein totes Kind.“

*
Vera und Elfriede
„Wie kann man Sarajevo teilen? Das ist nicht Berlin. Sarajevo ist eine so kleine Stadt. Am Anfang war nicht ganz klar, was sie wirklich wollten. Eines Tages kamen dann Šešelj-Leute aus Serbien nach Grbavica. Wir haben gesehen, dass das alles Fremde waren. Wir kennen uns hier in der Nachbarschaft ziemlich gut. Am 16. Juni 1992 konnte ich dann nicht mehr zu meinen Kindern, die auf der anderen Seite der Miljacka leben. Wir konnten auch nicht mehr telefonieren. Da haben wir gewusst, jetzt ist es ernst. Sie haben die Stadt geteilt. Auch unsere serbischen Nachbarn waren ganz betroffen.“
Vera lässt eine kurze Pause entstehen. Ihre Freundin Elfriede schaut sie zweifelnd an und fragt sie. „Glaubst Du nicht, dass sie etwas gewusst haben?“
„Ich bitte Dich. Die bei uns in den Häusern, die ich gekannt habe, die haben das nicht gewusst.“
„Ja aber auf dem Land …“
„Ja, auf dem Land da war das anders. Da waren sie vorbereitet.“
In Sarajevo war das anders, da sind sich die beiden Freundinnen einig. Den ganzen Krieg über konnten Vera und Elfriede sich nicht sehen. Vera und Elfriede leben zwar beide auf der linken Seite der Miljacka. Aber Vera lebt in Grbavica, das während des Krieges von den bosnischen Serben gehalten wurde. Elfriede lebt einige hundert Meter flussaufwärts in einem Stadtteil, der von der bosnischen Regierung gehalten wurde. Und während des Krieges durften und konnten sie einander nicht besuchen.
Vera, deren Vater Österreicher und deren Mutter Bosniakin war, ist mit einem Tschechen verheiratet, der weil er katholisch ist, für einen Kroaten gehalten wird. So ist es einfacher. Veras Großmutter war Jüdin. Ihre Freundin Elfriede ist Österreicherin, die die Liebe vor bald 30 Jahren nach Sarajevo geführt hat. Fast vier Jahre haben sie sich nicht gesehen. Als die Kinder noch kleiner waren, haben sie Weihnachten zusammengefeiert. Heute stehen selbstgebackener Kuchen, Obst aus dem Garten, Kaffee und Schnaps auf dem Tisch.
Die neuen Machthaber ließen Vera spüren, dass sie nicht mehr erwünscht war, auch wenn sie schon seit Jahrzehnten in Grbavica lebte. Aber auch sie lebte mit dem Gefühl auf der falschen Seite zu sein, denn ihr Herz war auf der anderen Seite, die von der Regierung gehalten wurde. Ihre sonst so ruhige, nachdenkliche Stimme wird hektisch, als sie vom Beschuss während des Krieges erzählt. Wie serbische Einheiten Artillerie in Stellung brachten, um auf die andere Seite zu schießen. Wie die Fensterscheiben zersprangen, sie Angst hatte und dann ein serbischer Soldat zu ihr sagte, sie brauche keine Angst zu haben, weil von hier nach drüben geschossen würde.
„Irgendwann haben sie dann auch von drüben auf uns geschossen. Das waren so ganz kleine Raketen. Die Leute hatten am Anfang noch Angst, aber die kleinen Raketen haben ja kaum Schaden angerichtet. Ganz später gab es dann auch andere, richtige Raketen. Aber das war für uns, wie soll ich sagen, wir haben eine Freude gehabt, weil sie jetzt auch schießen. Das war mehr Freude als Angst, auch bei unseren Serben war das so, die waren ja mit uns.“
Es war eine verdrehte Welt. Eine Frontlinie trennte die Stadt, Familien und Freunde. Die Menschen, die nicht glauben wollten, was passieren sollte, realisierten die Lebensgefahr, in der sie lebten, zu spät. Es war nicht Mut, Vera und ihr Mann dachten nur nicht daran, Grbavica zu verlassen. Obwohl viele gegangen sind. Aber das waren meist junge Menschen. Die Alten blieben. „Nein, ich wäre nicht gerne gegangen. Jeder hat sein Haus schützen wollen, dass er sein Bett hat und seinen Sessel.“ Ihrem Mann musste kurz vor Kriegsbeginn ein Bein abgenommen werden. Vera musste während des Krieges alle Besorgungen machen. Einkaufen ging sie dann, wenn keine Soldaten auf den Straßen waren. Niemand ging einkaufen, wenn Soldaten auf der Straße waren. Sie waren oft betrunken und ihre Willkür kontrollierte niemand. Doch konnte sie in den Geschäften einkaufen, im Gegensatz zu den Bosniaken. „Sie haben oft nach den Papieren gefragt und dann haben sie die Muslime hinausgeworfen. Ich habe meinen jüdischen Ausweis gezeigt und mir ging es daher ziemlich gut. Aber wenn man alles gesehen hat, was hier passiert ist. Das war schrecklich. Es gab keinen normalen Tag hier.“
Elfriede im anderen Teil Sarajevos, war auf humanitäre Hilfe angewiesen. Alle zwei Wochen gab es Öl, Mehl, Zucker und einige andere Lebensmittel, aber immer zu wenig. „Einmal haben wir ein Ei bekommen. Aber was mache ich mit einem Ei, wo wir doch fünf Personen zuhause sind? Ich habe lange überlegt, dann kam mir die Idee. Ich machte eine Suppe mit Eierstich.“
Vera hatte andere Sorgen. Ihr Leben im serbisch besetzten Teil Sarajevos war ein anderes. Sie hatte Angst vor den Kontrollen, sie hatte Angst, dass Freischärler eines Tages auch in ihrer Wohnung stehen würden. Dann konnte einem alles passieren. Es waren die Fremden aus Serbien, die das Grauen brachten. Ihre alten serbischen Nachbarn werden verteidigt und freigesprochen, denn nur ganz wenige von ihnen machten mit. In der Öffentlichkeit war die Angst allgegenwärtig. „Auf der Straße haben meine serbischen Nachbarn und ich uns nur zugenickt. Aber in den Häusern und in den Wohnungen war das anders. In jedem Haus haben ja Muslime, Serben und Kroaten gelebt. Man konnte also nicht sehen, wohin man ging. Es gab zwar Spitzel, aber wir wussten ja, wer diese waren.“
Im Februar 1996 wurde Grbavica wieder an Sarajevo angegliedert. Die Stadt war nicht mehr geteilt. Viele Serben flüchteten aus Grbavica. Bosniakische Flüchtlinge zogen in ihre Wohnungen ein. Vera und ihr Mann sind wieder zu einer Minderheit geworden. Das alte Vertrauen unter den Nachbarn ist zerstört und jetzt kennen sich die Menschen nicht, sie gehen sich aus dem Weg. Die Distanz zu den Flüchtlingen ist groß. Viele von ihnen wollen mit Serben und Kroaten nichts zu tun haben.
„Ich habe nie darüber nachgedacht, was für einer Nation ich angehöre. Dann im Krieg wurde es wichtig. Ich musste meine Nation verstecken und ich hätte nie gedacht, dass es mir einmal helfen wird, dass meine Großmutter Jüdin war. Ich möchte Bosnierin sein, aber diese Nation gibt es nicht. Oder Chinesin. Bloß keine Muslimin, Serbin oder Kroatin.“
Vera und Elfriede verstehen immer noch nicht, wieso das alles passieren musste. Das Leben vorher war doch gut für alle. Doch jetzt ist es zerstört. „Die jungen Menschen können es wieder ändern oder noch Schlimmeres machen. Ich hoffe aber, dass es besser wird. Es ist schrecklich, ich werde sterben und nie werde ich wissen, warum dies alles geschehen ist.“
*
Faruk
Wir gehen die lange Rampe bis an die Haustür und öffnen sie. Sie stehe tagsüber immer offen, hatte uns Faruk gesagt. Faruk ist nicht alleine in seinem Büro. Ein Kollege sitzt vor einem Computer. Faruk dreht sich von seinem Schreibtisch weg und begrüßt uns. Er hat momentan viel Arbeit. Für seine Organisation müssen neue Geldmittel beantragt werden. Zwanzig Jahre war Faruk als er im März 1995 von einem Heckenschützen niedergeschossen wurde. Ein zufällig anwesendes Kamerateam bannte sie Sekunden, die sein Leben veränderten, auf Zelluloid. Heute sind diese Aufnahmen Teil eines Computervideos, das er gemeinsam mit seinem Kollegen entwickelt hat, um auf die Situation der Kriegsverletzten und Menschen mit Behinderungen in Bosnien und Herzegowina aufmerksam zu machen.
„Mein Traum ist es, dass Sarajevo die zugänglichste Stadt für Menschen mit Behinderungen in der ganzen Welt wird, dass sie einzigartig ist in ihrer Toleranz. Sarajevo soll ein Beispiel für die ganze Welt werden, ein Beispiel für eine gute Einstellung gegenüber Menschen mit Behinderungen. Aber das ist der Traum meiner Nachkriegspersönlichkeit.“
Faruk spricht langsam, legt immer wieder Pausen ein. Nur schwer scheint er die Worte zu finden. „Der Traum meiner Vorkriegspersönlichkeit war es, dass Sarajevo eine internationale, lebendige Stadt ist. Friedvoll, mit guten Konzerten und schönen Mädchen. Aber jetzt will ich, dass Rollstuhlfahrer überall dorthin können, wohin sie wollen und müssen.“
Während eines Krankenhausaufenthaltes in New York, als er endgültig erfuhr, dass er sein Leben lang auf den Rollstuhl angewiesen sein wird, fasste er den Entschluss, eine Organisation aufzubauen, die sich für die Rechte von Menschen mit Behinderungen einsetzt. „Als sie mir sagten, dass es keine Chance gibt, dass ich mich auf ein Leben im Rollstuhl vorbereiten muss und dass ich in Sarajevo falsch behandelt worden bin, lag ich in meinem Zimmer und schaute auf Manhattan, ich sah die Lichter nach all den Jahren der Dunkelheit in Sarajevo. Ich wusste nicht, was ich machen sollte.“
Jetzt führt er mit seinem Kollegen eine NGO. Vor dem Krieg haben ihn Menschen mit Behinderungen nicht interessiert, er hatte ihre Situation so wenig wahrgenommen wie heute die meisten Menschen gleichgültig gegenüber dem Schicksal der Tausenden Kriegsverletzten und Behinderten sind. Doch genau das will er ändern und er will aus Sarajevo eine Stadt machen, in der sich Menschen mit Behinderungen normal bewegen können.
„Wir haben so eine große Chance. In Sarajevo, wie in anderen Städten in Bosnien und Herzegowina ist so viel zerstört worden. Es muss so viel wieder aufgebaut werden. Also sollte man diese Chance nutzen und zumindest alle neuen Gebäude so bauen, dass sie auch für Menschen mit Behinderungen zugänglich sind oder dass die Gehsteige abgeflacht werden. Bei jeder Form von Wiederaufbau sollte an uns gedacht werden.“
Menschen mit Behinderungen sind nicht gut für die Reputation einer Stadt, die sich den Anschein wiedergewonnener Normalität geben will und muss, die aber auch von der Vergangenheit träumt. Sarajevo hat sich einen eigenen Mythos geschaffen, der weiterleben wird, weil der Krieg, die Belagerung und der Beschuss eine andere Stadt geschaffen haben. Der Krieg, der vergessen werden will, der aber trotzdem allgegenwärtig ist. Auf der Ferhadija, der Flaniermeile in der Innenstadt sind die jungen Männer im Rollstuhl jeden Tag zu sehen. Sie erinnern die anderen täglich an den Krieg. Sie waren alle gemeinsam im Krieg, die einen wurden verwundet, die anderen nicht. Und Faruk will, dass diejenigen, die kein Glück hatten, nicht vergessen werden. Er will kein Mitleid, sondern nur die gleichen Rechte und Möglichkeiten. Doch das ist in Bosnien und Herzegowina schwierig.
„Vor dem Krieg hat man die Menschen mit Behinderungen in Einrichtungen weggesperrt. Jetzt ist es zwar nicht mehr wie vor dem Krieg, aber es gibt immer noch viele Vorurteile uns gegenüber. Nur gibt es jetzt so viele Menschen mit Behinderungen, von denen die meisten Soldaten waren, die die Stadt verteidigt haben, die für alle anderen gekämpft haben, so dass man uns nicht verstecken kann.“
Faruk hatte sich während des Krieges zur Armee gemeldet. „Ich habe zwar auch für mein Recht gekämpft und Sarajevo verteidigt, aber es war auch die Aufregung und die Gefahr, die mich faszinierten. Ich war damals jung.“
Doch die Absurdität des Krieges hatte ihn bald eingeholt. Im Krieg dachte er nie daran, dass er getötet oder schwer verwundet werden würde. „Ich stellte mir nur vor, dass ich vielleicht einen Durchschuss im Arm, eine Fleischwunde abbekommen würde, aber nichts Schwerwiegendes. Dass mir ein Arm oder Bein abgenommen werden muss oder dass die Wirbelsäule verletzt wird, konnte ich mir nicht vorstellen. Es war wie mit Leuten, die nicht glauben wollen, dass sie eines Tages alt werden. Doch die Zeit vergeht und plötzlich merken sie, dass sie vielleicht auch einmal eine Rampe brauchen.“ Lachend unterbricht sich Faruk. „Vielleicht bin ich langweilig mit meinen Zugangsmöglichkeiten für Menschen mit Behinderungen. Aber das ist eine professionelle Deformierung. Es ist für mich das Wichtigste.“
Der Schuss eines Heckenschützen traf ihn, als er als Zivilist auf der Straße in Sarajevo unterwegs war. Faruk war siebzehn als der Krieg begann. Zwanzig als verwundet wurde. Jetzt widmet er sich seiner Aufgabe, seiner Berufung. Fast scheint es, als wolle er seine Person in der Berufung aufgehen lassen, als wären beide identisch geworden. Er spricht langsam und nach Worten suchend, wenn er nicht über seine Berufung spricht. Spricht er darüber, fließen die Worte aus ihm heraus, nicht wie auswendig gelernt, sondern wie aus seinem Innersten kommend. Manchmal ist ein Unterton von Unverständnis zu hören, warum nicht alle Menschen in der Stadt es so sehen. Es sei doch so einfach, eine Selbstverständlichkeit, in einer Stadt, in der durch den Krieg so viel zerstört worden ist, beim Wiederaufbau an alle Menschen in der Stadt zu denken. Es müsse doch sowieso gebaut werden, wieso dann nicht so, dass auch Menschen mit Behinderungen einen Zugang haben, dass sie nicht immer auf die Hilfe anderer angewiesen sind, wenn sie wohin möchten. Aber kein Anflug von Skepsis ist zu erkennen. Er will sein Ziel erreichen.
„Wenn ich zu einer internationalen Organisation gehe, dann kommt immer die Antwort, dass wäre eine großartige Idee. Wie konnten wir nur darauf vergessen. Dieselbe Reaktion kommt von unseren Behörden. Nur wenn es darum geht, dies in die Praxis umzusetzen, sieht es anders aus. Ich glaube nicht, dass sie aus Unwillen nicht umsetzen, sondern es ist einfach Faulheit. Sie vergessen es einfach.“
Also erinnern er und seine Kollegen sie weiter daran. Sie haben zwar schon einiges erreicht, aber es bleibt noch viel zu tun. Das Leben ist schnell geworden nach dem Krieg, von dem er dachte, dass er nie vorüber sein würde. „Im Krieg blieb die Zeit stehen oder sie lief rückwärts oder sie lief vorwärts. Es war verwirrend.“ Heute scheint es ihm, als wäre die Verwundung erst gestern gewesen. Hass verspürt er keinen, auch wenn er die Menschen, die die Stadt beschossen haben, nicht verstehen kann. Sonst sind die Erinnerungen an den Krieg dünn, denn er war wie eine permanente Wiederholung. Alles war gleich und jetzt ist alles anders. „Ich bin selbstverständlich ein anderer Mensch geworden, aber nicht nur weil ich im Rollstuhl sitze. Da ist etwas anderes, das tiefer sitzt.“
Das Verhältnis zum Wesentlichen, zum Geist, der Seele und dem Körper ist anders geworden. Faruk sucht nach Worten, um es zu erklären. Er wendet sich an seinen Kollegen, der bisher seiner Arbeit nachgegangen ist. Sie diskutieren lange. Faruk nickt immer wieder zustimmend und fasst dann, was sein Freund sagte, zusammen.
„Er meint, dass der Geist nicht wichtig sei. Die Seele ist unser wahres Ich, auch wenn sie oft durch die Materie, durch den Geist verdeckt ist. Die meisten Menschen zeigen sich anders als sie wirklich sind, weil sie Angst haben. Obwohl er im Rollstuhl sitzt, habe er aber keine Angst vor sich selbst. Er habe sogar sein wahres Ich entdeckt. Seitdem er im Rollstuhl sitze, habe er erkannt, dass die materielle Welt nichts zählt, dass die körperliche Erscheinung, auf die viele so viel Wert legen, nichts zählt. Menschen, die laufen, sind nicht glücklicher als ich.“
Für Faruk sind die Äußerungen seines Freundes die Worte, nach denen er suchte. Der Geist sei dazu da, unsere Sinne zu befriedigen. Seitdem er im Rollstuhl sitze, habe sein Geist weniger zu tun und er könne sich mehr auf sich selbst besinnen. Und beide sehen Menschen heute anders als früher.
„Wenn ich eine gutaussehende Frau sehe, ist meine oberflächliche Reaktion vielleicht wie früher. Ich sehe, dass sie gut aussieht, so wie es früher auch gesehen hätte. Heute aber kann ich auch sehen, wie es in ihr aussieht.“
*
Djordje
„Wäre ich nicht durch diesen Krieg gegangen, wüsste ich nicht, dass alles relativ ist. Die materielle Welt zählt nichts. Wichtig sind Gefühle, Würde, Liebe, Ehrlichkeit, ein Mensch zu sein. Im Krieg habe ich erst erkannt, wie unzufrieden, wie unglücklich ich vor dem Krieg war, weil ich mich nach der materiellen Welt richtete. Menschen, die den Krieg nicht erfahren haben, können sich gar nicht vorstellen wie schön das normale Leben sein kann. Einen Sonnenuntergang zu erleben und zu wissen, niemand wird auf Dich schießen, genügend Wasser und Essen zu haben und keine Heckenschützen, die dich töten wollen.“
Djordje war vor dem Krieg Assistent an der Universität. An einem Krieg wollte er nicht glauben, Freunde, die das Unheil kommen sahen, nahm er nicht ernst. Er war im Krieg Offizier in der bosnischen Regierungsarmee und als Doktor der Philosophie war er eine Zeitlang zuständig für die Moral in seiner Brigade. Der Krieg hatte die alten Maßstäbe außer Kraft gesetzt. „Viele hatten alles verloren und sie meinten ihren Verlust rächen zu müssen. In einigen Situationen war es unmöglich mit ihnen zu reden, sie waren wie wild und bedrohten sogar mich.“ Nicht immer gelang es ihm, Soldaten von Plünderungen oder Gewalttaten an Gefangenen abzuhalten.
Sein strenger Blick löst sich plötzlich auf. Er schmunzelt und erzählt eine Geschichte von einem ruhigen Tag an der Front. Sie lagen in ihrer Stellung und auf einmal sahen sie ein kleines Mädchen mit einem Korb auf sie zukommen. Er stellte sich heraus, dass sie ihrem Vater Essen bringen sollte, der allerdings auf der anderen Seite in Stellung lag. Sie zeigten dem Mädchen den Weg und ließen es gehen, obwohl sie seit Tagen kaum etwas gegessen hatten. Am nächsten Tag kam das Mädchen wieder mit einem Korb und brachte ihnen mit einem schönen Gruß von ihrem Vater Essen und Getränke. „Und es war kein Schweinefleisch dabei!“
Der Krieg war von den meisten Menschen nicht gewollt, aber es war für viele schwierig, sich aus dem Netz zu befreien, das von den Nationalisten gestrickt worden war. Im Krieg hatte er genügend Zeit über den Nationalismus nachzudenken, beobachtete und erinnerte sich seiner Freunde und kam zu dem Ergebnis, dass Nationalismus ein Produkt der Kindheit und Jugend sei, wenn Menschen in einer kleinen, geschlossenen Gesellschaft aufwachsen, in der es als Identität nur die Nation gibt, in der schon den Kindern erzählt wird, dass ihre Nation besser als die andere sei. „Meine Eltern waren stolze Serben, mein Großvater war orthodoxer Priester. Aber ich habe in unserer Familie nie gehört, dass Serben besser seien als andere. Nur dass alle Menschen gleich sind.“ Das Denken auf dem Land war ein anderes und für Djordje war der Krieg ein Krieg des Dorfes gegen die Stadt.
Djordje blieb in Sarajevo und es stellte sich ihm nie die Frage, ob er auf der falschen Seite stehe. Er hatte Angebote, auf die andere Seite zu gehen, er hätte einen hohen Posten annehmen können, aber mit dieser Art von Politik wollte er nichts zu tun haben. Während des Krieges wurde er von einigen Offizieren als Verräter am serbischen Volk beschimpft und sie drohten, ihn zu ermorden. Heute leitet er das Büro einer internationalen Organisation in Sarajevo und in dieser Funktion war er mehrmals in der Republika Srpska, dem serbisch kontrollierten Teil Bosnien und Herzegowinas. „Die meisten freuen sich, wenn sie mich sehen. Ich wurde nie abgelehnt, weil ich aus Sarajevo komme, sie respektieren mich. Sarajevo ist für die meisten ein unvollendeter Traum. In Banja Luka habe ich vor kurzem einen alten Kollegen wieder getroffen. Für ihn war ich wie ein Zeichen aus der Zivilisation.“
Seine Verachtung gilt den Nationalisten aller Seiten, aller Länder. Sie sind für ihn lächerliche Figuren, denn borniert und nationalistisch zu sein, sei nicht natürlich. Natürlich sei es, offen und tolerant zu sein. Genauso lächerlich sei es, wenn Nationalisten der einen Seite Nationalisten der anderen Seite als Nationalisten beschimpfen, was in Bosnien und Herzegowina zum politischen Alltagsgeschäft gehöre. „Ich bin Bosnier und nicht Serbe. Aber ich bin stolz auf meine serbische Herkunft. Warum sollte ich es nicht sein? Ich bin nicht verantwortlich für das, was die Nationalisten getan haben. Diese Mafiosi repräsentieren doch nicht die Serben.“
Vor dem Krieg fühlte er sich als Weltenbürger, der zufällig in Jugoslawien, in Sarajevo geboren wurde. Der Krieg machte ihn zum Bosnier, weil er als solcher angegriffen wurde. „Ich bin nicht fanatisch, ich werde es nur, wenn es um diese Nationalisten geht. Solange sie die Macht in den Händen halten, wird sich nichts ändern.“
Es wird lange dauern, bis sich das Leben wieder normalisiert, denn alles habe sich geändert, vor allem haben die Menschen jetzt Wertvorstellungen, die nicht mehr in die Zukunft weisen, sondern auf die Vergangenheit bezogen sind. Er passe nicht wirklich in dieses neue Leben in Sarajevo, aber auch jetzt denke er nicht daran, zu gehen. Vielmehr demonstriere er selbstbewusst, dass Sarajevo trotz allem auch seine Stadt sei.
„Ich vermisse meine Freunde und das Klima geistiger Offenheit, das in Sarajevo vor dem Krieg herrschte. Jetzt erinnert es doch sehr an eine Provinzstadt. Es wäre schön, wieder in einem Sarajevo zu leben, in dem nicht Ideologien, Religion und Nationalismus das Leben beherrschen, sondern geistige Freiheit und Entwicklung. Ich hoffe, dass ich das noch erleben werde, bevor ich sterbe.“
*
Selma
„Während des Krieges gab es viel Solidarität. Jetzt nach dem Krieg hat das sehr nachgelassen. Vielleicht haben die Menschen Angst, dass es wieder passiert und halten jetzt viel für sich zurück oder wir beginnen wie die Menschen im Westen zu leben, dass wir nur noch an die Arbeit denken, ohne uns um die anderen zu kümmern.“
Selma hätte lieber das alte bosnische Leben zurück, der kalte, westliche Lebensstil behagt ihr nicht so. Er habe allerdings einen großen Vorteil, denn wer nur an die Arbeit denke, vergisst schneller und habe wenig Zeit zum Diskutieren. Dann wird es leichter, wieder zusammenzuleben. Selma vermisst die anderen und ist sich sicher, dass es anderen genauso geht. Es ist als ob einem eine Hand fehlen würde. „Ich würde meinem Kind nie erzählen, was passiert ist, dass die Serben auf den Hügeln saßen und uns töteten. Nie würde ich das erzählen. Aber wahrscheinlich lernt es das sowieso in der Schule.“
Es soll am besten wieder alles so werden wie vor dem Krieg. Ein Traum, der nicht mehr Realität werden kann, dafür hat sich zu viel verändert. Vor dem Krieg war es besser als im Krieg und nach dem Krieg. Die Zeit vor dem Krieg ist in die Erinnerung eingegangen, die Zeit des Krieges ist zur Erfahrung geworden. Erfahrungen, die Rückkehrer und Fremde nicht haben.
Selma war es vor dem Krieg egal, welche Religion ihr Freund hatte. Heute könnte sie nicht mehr mit einem Mann zusammen sein, der nicht Moslem sei. Im Krieg hat sie miterlebt, wie Paare auseinandergingen, weil sie verschiedener Religion waren. „Wenn ein Freund eine andere Religion hat, das ist unwichtig. Aber bei einem Menschen, mit dem du dein ganzes Leben verbringen willst, ist das anders.“
Der Krieg hat ein Verlangen nach Sicherheit mit sich gebracht, die ihr die Politik nicht geben kann. Politik hat Selma nie interessiert, sie weiß nur eines, dass es mit den jetzigen Politikern schwer wird, dass es eines Tages wieder so schön wird wie es früher einmal gewesen ist. Bis vor kurzem war sie noch optimistischer. Dann übersetzte sie für einen Internationalen, der mit kroatischen, serbischen und bosniakischen Politikern verhandelte. „Zuerst haben wir in Mostar einen Kroaten gesprochen, er hasste die Muslime. Dann sprachen wir hier mit unseren Leuten, die sprachen auch voller Hass. Und dann in Pale mit den serbischen Politikern war es genauso. Ich war danach so enttäuscht, weil ich immer dachte, dass es vorbeigehen wird und wir wieder zusammenleben werden.“
Selma hat sich zwar im Krieg auch manchmal gesagt, dass sie die Serben hasse, die auf den Hügeln saßen, weil sie ihr so viel genommen haben. Aber sie fühlt nicht so, bei anderen aber sieht sie diesen unglaublichen Hass. Sie kann ihn bei Menschen verstehen, die alles verloren haben. Sie hatte Glück, ihre Familie überlebte. Ihre Wohnung wurde früh zu Beginn des Krieges zerstört, doch fanden sie bald wieder eine. Die neue Wohnung war zwar auch ausgebrannt, doch waren ein Zimmer und Küche und Bad noch in Ordnung. Wenig Platz für eine vierköpfige Familie, den sie sich auch noch mit einem Flüchtlingspaar teilten. Nach dem Krieg sollte die Wohnungsinhaberin, eine Serbin, die geflohen war, auf Besuch kommen. Sie hielten Familienrat, wie sie sich verhalten sollten wenn die Frau kommt. Sie einigten sich darauf, nicht mit ihr zu reden. Die Frau klingelte, ihr Vater öffnete die Tür, sagte Hallo, schön Sie zu sehen und bat sie in die Wohnung. Sie redeten dann stundenlang.
Die neue Wohnung liegt in einem anderen Viertel, Selmas Kontakt mit ihren wenigen alten Freundinnen, die noch geblieben waren, wurde unterbrochen. Der Weg war zu lang und zu gefährlich. „Im Krieg war ich alleine. Ich hatte nur meine Familie, ich ging auch nicht aus. Erst nach dem Krieg las ich von den Partys und den Bars, die es in Sarajevo während des Krieges gegeben hat.“ Tote auf der Straße wurden zur Gewohnheit. Das erste Mal weinen musste sie, als sie eine alte Frau, die hilflos an einer Kreuzung stand, an die Hand nahm und über die Straße führte. „Die alte Frau begann zu weinen und sagte immer nur Danke, Danke und Gott schütze Dich.“
Das Leben nach dem Krieg in Sarajevo irritiert sie. Sie hat das Gefühl, dass die letzten fünf Jahre Sarajevo um 50 Jahre zurückgeworfen haben. „Es ist unglaublich, dass es jetzt in Sarajevo junge Menschen gibt, die in die Moschee gehen, dass junge Frauen ein Kopftuch tragen oder dass es Frauen gibt, die ihr ganzes Gesicht verdecken.“ Sie hat Angst, dass diese Menschen noch mehr Einfluss bekommen und es gefällt ihr nicht, dass die Kinder in der Schule Prüfungen in Religion ablegen müssen. Aber mit den religiösen Menschen geht es ihr wie mit den Flüchtlingen. Sie hat mit beiden Gruppen keinen direkten Kontakt, sieht sie vielleicht mal auf der Straße. In ihrem Bekanntenkreis ist keiner von der neuen Religiosität erfasst. In Sarajevo sind sie auch weiterhin nur eine kleine Minderheit.
Der Krieg hat Selma fünf Jahre gestohlen. Zeit, der sie jetzt hinterherlaufe, die ihr die Gegenwart nicht zurückgeben kann. „Ich bin stärker geworden. Ich habe viel Blut gesehen, tote Menschen auf den Straßen. Aber ich bin glücklich, denn ich habe überlebt und meine Familie ist am Leben. Mir geht es gut. Ich bin nicht verrückt geworden wie viele andere. Ich weiß, was das Leben bedeutet. Ich möchte jetzt einfach nichts vermissen, ich will alles haben.“
Erläuterungen
Der Text ist 1997 für ein Buchprojekt zu Bosnien und Herzegowina entstanden, das leider nicht realisiert worden ist. Neben den Texten waren Aufnahmen der Stadt und Porträts der Gesprächspartner vorgesehen. Es erscheinen weitere Texte zu Tuzla, Zvornik, Banja Luka, Livno und Goražde.
Wenn in den Gesprächen die Gesprächspartner, Bosniaken als „Muslime“ bezeichnet haben, so habe ich es im Text so gelassen.
Bosnier und Bosnierin – bei der letzten Volkszählung vor dem Krieg 1991 konnte man sich nicht als „Bosnier“ oder „Bosnierin“ deklarieren, auch wenn man wollte. Die Verantwortlichen insistierten, dass man sich nur als Serbe oder Serbin, Kroate oder Kroatin oder Muslim oder Muslimin, Jugoslawin oder Jugoslawe oder einer der anderen Volksgruppen wie den Roma zugehörig deklarieren konnte.
In den größeren Städten wie Sarajevo, Banja Luka, Tuzla oder Mostar bezeichneten 10% oder mehr als Jugoslawe oder Jugoslawin. Geschätzt über 25% der Bewohner Bosnien und Herzegowinas lebten entweder in einer oder stammten aus einer „ethnisch gemischten“ Familie. Während des Krieges mussten sich die Menschen aber meist für eine der drei großen Ethnien entscheiden.
Radovan Karadžić – bosnisch-serbischer Politiker und Kriegsverbrecher. Er wurde 2008 festgenommen und 2019 zu lebenslanger Haft verurteilt.
Grbavica – Stadtteil Sarajevos
Miljacka – Fluss durch Sarajevo
Pale – 20 km von Sarajevo, war es der Hauptort der bosnischen Serben während des Krieges
Mostar – in der Herzegowina gelegener Ort, der durch den Fluss Nervetna in einen kroatisch und einen bosniakisch dominierten Teil geteilt ist. Wichtigste Stadt der Kroaten in Bosnien und Herzgowina
Šešelj Leute – Vojislav Šešelj ist ein Politiker, Extremist und in zweiter Instanz verurteilter Kriegsverbrecher aus Serbien. Während der Kriege in Kroatien und Bosnien und Herzegowina begangen die ihm nahestehenden Freischärler, die „Bjeli Orlovi“ („Weiße Adler“) oder auch Šešeljevci - Šešelj Leute, schwerste Kriegsverbrechen. Der jetzige Präsident Serbiens Aleksandar Vučić war in diesen Jahren ein enger Mitarbeiter Šešeljs.
Republika Srpska – von den bosnischen Serben kontrollierte Entität – Landesteil – von Bosnien und Herzegowina. Die zweite Entität ist die Föderation der Bosniaken und Kroaten. Ein dritter Teil ist der Distrikt Brčko.
NGO – Non-Governmental Organisation. Auf Deutsch Nichtregierungsorganisation.





